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Rechtswidrigkeit von (Gebühren) Bescheiden wegen DSGVO-Verstoß - Dürfen öffentliche Stellen ihre Verfahren automatisieren?
Automatisierte Entscheidungen unterliegen gem. Art. 22 DSGVO besonderen gesetzlichen Anforderungen, welche auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung gelten. Zentrale Voraussetzung für die Zulässigkeit solcher Entscheidungen ist das Vorliegen einer entsprechenden Rechtsgrundlage. Fehlt diese, ist der Bescheid rechtswidrig. Wie die Verwaltungsgerichte damit umgehen, zeigt eine aktuelle Entscheidung des VG Bremen (Urt. v. 14.07.2025, 2 K 763/23).
Automatisierte Entscheidungsfindung im Abfallgebührenfall
Der Kläger erhielt für das Jahr 2022 einen Abfallgebührenbescheid über insgesamt 176,82 Euro. Da die Gebührenberechnung programmgestützt erfolgte, legte er Widerspruch ein und machte geltend, die automatisierte Entscheidungsfindung verstoße gegen Art. 22 DSGVO. Nachdem sein Widerspruch zurückgewiesen wurde, erhob er Klage.
Nach Auffassung des Gerichts lag hinsichtlich des Ausgangsbescheids tatsächlich eine ausschließlich auf automatisierter Verarbeitung beruhende Entscheidung im Sinne des Art. 22 Abs. 1 DSGVO vor, für die es an einer gesetzlichen Grundlage fehlte. Das eingesetzte Datenverarbeitungssystem entschied eigenständig über das „Ob“ und über die Höhe der Abfallgebühr. Weder die Initialisierung des Verfahrens durch den Referatsleiter noch die stichprobenartigen Kontrollen einzelner Bescheide genügten, um den Charakter einer automatisierten Entscheidung zu verneinen. Auch der Umstand, dass die zugrunde liegenden Daten vorab manuell durch Behördenmitarbeiter erhoben wurden, änderte daran nichts. Eine Rechtsvorschrift im Sinne des Art. 22 Abs. 2 lit. b DSGVO, die eine solche ausschließlich automatisierte Verarbeitung zugelassen hätte (etwa in einschlägigen Spezialgesetzen), war nicht ersichtlich.
Das Gericht stellte zudem klar, dass spätestens seit Inkrafttreten des § 35a VwVfG für den Erlass von Abfallgebührenbescheiden durch vollautomatisierte Systeme eine ausdrückliche Rechtsgrundlage erforderlich ist. Da der Gesetzgeber von dieser Regelungsmöglichkeit bislang keinen Gebrauch gemacht hat, war der Bescheid rechtswidrig.
Der Gegenstand der Klage war allerdings der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt des Widerspruchsbescheids. Da der Widerspruch des Klägers durch einen Sachbearbeiter „traditionell“ und nicht nur rein automatisiert bearbeitet und erstellt wurde, hob das Gericht die Festsetzung von Abfallgebühren nicht auf. Der formelle Mangel des Bescheids wurde im Widerspruchsverfahren geheilt.
Gerichtsentscheidungen aus anderen Rechtsgebieten
§ 35a VwVfG beschäftigt die Gerichte bereits seit einiger Zeit. So befasste sich das OVG NRW in seinem Urteil vom 17. März 2023 (4 A 1986/22) im Zusammenhang mit Corona-Soforthilfen auch mit den Voraussetzungen dieser Vorschrift. In diesem Verfahren wurde Art. 22 DSGVO allerdings nicht explizit thematisiert, da der automatisierte Erlass des Bescheids bereits nicht durch eine Rechtsvorschrift gedeckt war. In einem ähnlichen Fall hob das VG Köln mit Urteil vom 16. September 2022 (16 K 412/22) einen Bescheid aus demselben Grund auf, ohne auf Art. 22 DSGVO einzugehen.
Anders ist die Rechtslage im Bereich der Rundfunkgebühren, wo Beitragsbescheide bereits seit 2020 vollautomatisiert erlassen werden dürfen, da hierfür eine entsprechende Rechtsgrundlage in § 10a RBeitrStV vorliegt. Die bisherige Rechtsprechung befasste sich allerdings nur mit Fällen, die sich noch auf den Zeitraum vor Einführung dieser Vorschrift bezogen. Auch hier spielte das „menschliche“ Widerspruchsverfahren eine entscheidende Rolle. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Gerichte künftig auch im Zusammenhang mit Rundfunkgebührenbescheiden intensiver mit Art. 22 DSGVO befassen müssen.
Wann ist eine Entscheidung automatisiert im Sinne des Art. 22 DSGVO?
Eine automatisierte Entscheidungsfindung liegt dann vor, wenn die Entscheidungen ohne direkte Beteiligung einer Person mithilfe technischer Mittel getroffen werden.
Der EuGH vertritt eine eher strenge Position zu Art. 22 DSGVO. In seiner Entscheidung vom 7. Dezember 2023 (Rs. C-634/21) stellte der Gerichtshof klar, dass die Entscheidungsfindung selbst dann als automatisiert angesehen werden kann, wenn zwar eine Person die finale Entscheidung trifft, diese aber maßgeblich durch eine zuvor automatisiert erstellte Bewertung beeinflusst ist.
Zu den Kriterien der Anwendbarkeit des Art. 22 DSGVO führt der EuGH folgendes aus:
„Die Anwendbarkeit dieser Bestimmung hängt somit von drei kumulativen Voraussetzungen ab, nämlich davon, dass erstens eine „Entscheidung“ vorliegen muss, zweitens diese Entscheidung „ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung – einschließlich Profiling – (beruhen)“ muss und drittens sie „gegenüber (der betroffenen Person) rechtliche Wirkung“ entfalten oder sie „in ähnlicher Weise erheblich“ beeinträchtigen muss.“
Der Begriff der „Entscheidung“ ist dabei weit auszulegen und kann mehrere Handlungen umfassen.
In seinen Schlussanträgen vom 16. März 2023 im selben Verfahren betonte der EuGH-Generalanwalt Pikamäe, dass die Beurteilung ob eine Entscheidung automatisiert erfolge, nicht zu formal erfolgen darf. Maßgeblich ist vielmehr die tatsächliche Wirkung der Entscheidung für die betroffene Person.
Die Konsequenz: in der Verwaltungspraxis dürfte bei programmgestützten Behördenentscheidungen sehr oft eine automatisierte Entscheidungsfindung vorliegen. Nach Auffassung der Art.-29-Datenschutzgruppe ist die Herkunft der Daten dabei nicht relevant. Dementsprechend spielt es keine Rolle, ob die Daten ursprünglich von Behördenmitarbeitern erhoben worden sind.
Selbst wenn die finale Entscheidung über den Erlass des Bescheids durch einen Sachbearbeiter erfolgt, aber maßgeblich auf das Ergebnis der automatisierten Datenverarbeitung gestützt wird, fällt sie in den Anwendungsbereich des Art. 22 DSGVO.
Ausnahmen nach Art. 22 Abs. 2 lit. b DSGVO
Art. 22 DSGVO ist als eine Verbotsnorm mit Erlaubnisvorbehalt ausgestaltet. Nach Art. 22 Abs. 2 lit. b DSGVO gilt das Verbot automatisierter Entscheidungsfindung dann nicht, wenn diese aufgrund von Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten zulässig ist. Diese Vorschriften müssen aber angemessene Maßnahmen zur Wahrung der Rechte und Freiheiten der betroffenen Person enthalten.
Nach ErwGr 72 DSGVO müssen die getroffenen Maßnahmen insbesondere die spezifische Unterrichtung der betroffenen Person sowie das Recht auf direktes menschliches Eingreifen gewährleisten. Darüber hinaus müssen die betroffenen Personen auch das Recht auf Darlegung des eigenen Standpunkts, die Erläuterung der Entscheidung sowie das Recht auf Anfechtung haben.
In der Kommentarliteratur wird zu Recht darauf hingewiesen, dass § 35a VwVfG sowie vergleichbare Vorschriften wie § 155 Abs. 4 AO oder § 31a SGB X den Anforderungen an hinreichende Garantien im Sinne von Art. 22 Abs. 2 lit. b DSGVO nicht genügen. § 24 Abs. 2 VwVfG verpflichtet zwar die Behörde, alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Darüber hinaus haben die Betroffenen im Verwaltungsverfahren das Recht, einen Bescheid im Widerspruchsverfahren oder vor Gericht anzufechten. Diese Vorgaben reichen jedoch nicht aus, um den Schutzstandards der Ausnahmeregelung gerecht zu werden. Insbesondere fehlt in allgemeinen verwaltungsrechtlichen Vorschriften der Anspruch auf ein direktes menschliches Eingreifen. Zudem ist unklar, ob bei vollständig automatisierten Verfahren in der Praxis sichergestellt werden kann, dass alle relevanten tatsächlichen Angaben der Beteiligten angemessen berücksichtigt werden.
Ein Beispiel für eine DSGVO-konforme Umsetzung der Öffnungsklausel bietet das IT-Einsatz-Gesetz Schleswig-Holstein. Dort regeln § 6 Transparenzpflichten, inklusive Offenlegung des verwendeten Algorithmus und des Einsatzumfangs der Technologie. § 7 schreibt menschliche Aufsicht vor, und § 12 führt mit der sog. „KI-Rüge“ einen speziellen Rechtsbehelf gegen KI-gestützte Entscheidungen ein. Wird eine solche Rüge erhoben, gilt der Verwaltungsakt als nicht bekanntgegeben, und ein erneuter Verwaltungsakt darf ausschließlich durch eine Person erlassen werden.
Rechtliches Risiko für behördliches Handeln auf Landes- und Bundesebene
Die Entscheidung des VG Bremen zeigt, dass die Behörden beim Einsatz von Software zur vollautomatisierten Erstellung von Bescheiden, datenschutzrechtliche vulnerabel sind. Insbesondere in Rechtsgebieten, wo kein Widerspruchsverfahren gesetzlich vorgesehen und damit keine Heilung durch menschliche Betätigung möglich ist, sind die Risiken des Einsatzes solcher Software nicht zu unterschätzen. Die Ausführungen des VG Bremen bieten daher eine Grundlage für eine Vielzahl potenzieller Anfechtungsklagen.
Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Rechtsprechung bislang uneinheitlich ist. So ist das OVG NRW (4 A 357/21) in einem weiteren Verfahren davon ausgegangen, dass die „menschliche Willensbetätigung“ durch einen Sachbearbeiter bei der abschließenden Prüfung des Bescheids ausreichend war, um den Vorgang nicht als vollautomatisiert einzustufen. Im Hinblick auf die EuGH-Rechtsprechung zur Auslegung des Art. 22 DSGVO erscheint diese Rechtsauffassung aber durchaus angreifbar.
Fazit: Was dürfen nun die Behörden?
§ 35a VwVfG schafft den allgemeinen rechtlichen Rahmen für automatisierte Entscheidungen im Verwaltungsverfahren, stellt aber keine eigenständige Rechtsgrundlage dar. Die Zulässigkeit solcher Verfahren muss sich aus den jeweils anwendbaren Spezialgesetzen ergeben. Erlaubt eine solche Vorschrift die automatisierte Entscheidungsfindung, ist es wahrscheinlich, dass die Verwaltungsgerichte sie auch ohne Rücksicht auf die Voraussetzungen des Art. 22 DSGVO akzeptieren. Die bisherige Rechtsprechung ist dabei eher „behördenfreundlich“ und lässt auch die menschliche Beteiligung im Widerspruchsverfahren ausreichen.
Allerdings enthalten viele Spezialgesetze (wie § 10a RBeitrStV) keine ausreichenden Schutzmaßnahmen im Sinne des Art. 22 Abs. 2 lit. b DSGVO. Der Umweg über die Heilungsmöglichkeit im Widerspruchsverfahren beseitigt die bestehenden Rechtsunsicherheiten daher nicht vollständig.
Fehlt eine Rechtsgrundlage für automatisierte Entscheidungen, können sich Behörden nicht allein auf § 35a VwVfG berufen und sind den Widersprüchen und Anfechtungsklagen der Betroffenen ausgesetzt.
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FAQ: Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Verhängung von Bußgeldern nach der DSGVO (C-807/21)
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- Worum ging es (Kurzfassung)?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 5.12.2023 (C-807/21) die Vorlagefragen des Kammergerichts Berlin (KG) in Bezug auf das im Oktober 2019 durch die Berliner Aufsichtsbehörde verhängte Bußgeld iHv. 14,5 Millionen Euro gegen die Deutsche Wohnen SE beantwortet
Europäischer Datenschutzausschuss: neue (strenge) Leitlinien zum technischen Anwendungsbereich der "Cookie-Vorgaben" (§ 25 TTDSG)
Der Europäische Datenschutzausschuss (EDSA) hat am 15.11.2023 eine Leitlinie zum technischen Anwendungsbereich von Art. 5 (3) der Datenschutzrichtlinie für die elektronische Kommunikation veröffentlicht. Die Leitlinie soll klarstellen, welche Trackingtechnologien von der ePrivacy-Richtlinie (ePrivacyRL) konkret erfasst und damit grundsätzlich einwilligungsbedürftig sind. In Deutschland wurden die Anforderungen der ePrivacyRL in § 25 TTDSG umgesetzt.
Entscheidung des EuGH zur FIN und generellen Aspekten des Personenbezugs
Die Folgen der Entscheidung des EuGH in der Rs. C‑319/22 vom 9. November 2023 werden sicherlich noch lange in der Datenschutz-Szene diskutiert. Es ist in jedem Fall jetzt schon klar, dass das Urteil in der Automobilbranche und daran angrenzende Sektoren aber auch allgemein im Bereich Datenschutz große Wellen schlagen wird. Doch scheint unklar zu sein, ob das auch gerechtfertigt ist oder im Wesentlichen dieselben Aspekte wie vor der Entscheidung bei der Klärung der Frage nach dem Vorliegen eines Personenbezugs zu beachten sind. In dem vom EuGH behandelten Fall wird jedenfalls erst durch das Landgericht Köln entschieden werden, ob für die Fahrzeughersteller und unabhängigen Wirtschaftsakteure die FIN ein personenbezogenes Datum ist. Im EuGH-Urteil selbst findet man die Antwort jedenfalls noch nicht direkt und eindeutig
EU Data Act verabschiedet – worauf müssen sich die Unternehmen einstellen?
Am 9. November 2023 hat das Europäische Parlament den Data Act final verabschiedet. Dieser soll den Zugang und die Nutzung von Daten erleichtern, die durch Nutzer bei Inanspruchnahme von Produkten und Diensten generiert werden und umfasst sämtliche Nutzerdaten - unabhängig vom etwaigen Personenbezug. Die Auswirkungen sind aus diesem Grund weitreichend und den Unternehmen werden viele Pflichten auferlegt, insbesondere was die Einrichtung von Zugangsmöglichkeiten zu Daten für die Kunden sowie deren Möglichkeit zur Weitergabe an Dritte angeht.
LDA Brandenburg: BSI-Vorgaben zur IT-Sicherheit als „Stand der Technik“ nach Art. 32 DSGVO
Die Landesbeauftragte für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht Brandenburg (LDA) hat am 10. November 2021 gegen einen Website-Betreiber eine Verwarnung nach Art. 58 Abs. 2 lit. b) DSGVO ausgesprochen. Grund für die Verwarnung war insbesondere die Bereitstellung einer Upload-Funktion für Bilder, die nicht ausreichend gesichert war und über die es Angreifern möglich gewesen war, eine Kundendatenbank auszulesen.
Die Behörde sah darin eine Verletzung der Art. 25 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 1 lit. b) DSGVO. Interessant an der Behördenentscheidung ist auch, dass diese einen Zusammenhang zwischen Art. 25 und Art. 32 DSGVO (Stand der Technik) und dem BSI-Grundschutz herstellt (hierzu sogleich mehr).
EuGH hat wieder zum Auskunftsanspruch entschieden – Zusammenfassung des Urteils in der Rs. C-307/22 vom 26. Oktober 2023
Während das Urteil in der Rs. C‑307/22 sich zwar mit dem speziellen Arzt-Patienten-Verhältnis beschäftigt, sind darin dennoch auch zahlreiche Aussagen enthalten, die allgemein für Erfüllung des Auskunftsanspruchs durch Unternehmen relevant sind. Das Urteil wird bereits munter in der Datenschutz-Szene diskutiert. Das ist auch deshalb verständlich, weil der EuGH einige hoch umstrittene Aspekte zum besonders praxisrelevanten Betroffenenrecht geklärt hat. In diesem Newsbeitrag finden Sie eine Zusammenfassung der aus unserer Sicht relevantesten Aussagen in der Entscheidung des EuGH sowie eine kurze Einschätzung zu den Folgen für die Praxis.